Donnerstag, 13. Januar 2011

14 Das Außergewöhnliche wagen

Habe ich da gestern geschrieben, dass wir heute Fallschirmspringen oder Drachenfliegen wollen? Ist natürlich völliger Blödsinn. Wer sich in Gefahr begibt, kommt darin um. Das war nur ein Aufreißer, um das geneigte Publikum bei der Stange zu halten. Aber wenn ich wahrheitsgemäß geschrieben hätte, dass wir heute morgen eine Rundfahrt mit dem Glasbottom-Boot machen, wärt Ihr doch längst gelangweilt auf www.bild.de umgeschwenkt.
Wobei man eine solche Fahrt auch durchaus spannend erzählen kann...
Prolog:
„He Ehrhardt“ sagt mein Chef, „für die Donnerstagsausgabe brauche ich noch drei Spalten über den Wassersport in Mauritius.“ - „Aber Chef“, wende ich ein, „dass ist doch stinklangweilig. Da gibt’s doch nur Wasserski, Drachenfliegen und Angeln. Höchstens noch Glasbootchen fahren“. - „Dann schreiben Sie halt was über die Glas-Dinger. Hauptsache spannend. Was mit sozialem Touch. Das wollen die Leute. Ein guter Journalist kann so was!“ - „OK, Chef, ich werd´ mir Mühe geben.“
. . .
Robinson verfluchte den Tag, an dem er den Job in diesem Hotel angenommen hatte. Er – angeblich ein direkter Nachfahre des berühmten Robinson Crusoe – hatte nichts Besseres mehr zu tun, als alte eingefettete Ladys und klapprige Touristenopas sorgsam in das hoteleigene, überdachte Glassbottomboat zu geleiten. „Schuhe ausziehen!“ befahl er (auf französisch) und zeigte auf eine Plastikkiste, in der die Sandalen der Touristen gesammelt wurden. Diesmal waren auch noch ein paar dicke Kinder dabei. Die ärgerten ihn am meisten, weil die immer so laut quietschten oder rumschrien, wenn mal ein kleiner Fisch zufällig unter dem Boot durchschwamm. Das ihm anvertraute Boot fasste etwa zwanzig Personen. Heute waren es 12 Erwachsene und sechs Kinder. Alle sprachen französisch oder kreolisch bis auf zwei Deutsche, die ihn wenigstens in Ruhe ließen. Als endlich alle an Bord waren, ließ er den rechten Außenborder an. Das Boot hatte zwei Maschinen, falls mal einer ausfallen sollte. Nur einer der beiden Yamaha-Motoren war mit dem Benzintank verbunden, der vor jeder Fahrt ausgetauscht wurde. Die Maschinen waren sehr zuverlässig. Niemals war eine ausgefallen, seit er vor ein paar Monaten diesen langweiligen Job angenommen hatte. Aber was sollte er machen? Seine Frau hatte ihn mehr oder weniger dazu gezwungen. Das Geld, das sie als Obstverkäuferin auf dem Markt verdiente, reichte einfach nicht, um die vier Kinder und sich selbst zu versorgen.
Er löste die Leinen und balancierte den Kasten durch die Untiefen, die man in Küstennähe umfahren musste. Eine Tour wie jede andere. Ein Tag wie jeder andere. Dachte er.
ES war gewaltig. Gewaltig groß, schwabbelig und von undefinierbarem Braun-Schwarz-Grau. Falls es Augen hatte, konnte man sie nicht sehen. Normalerweise lag ES in permanentem Halbschlaf in etwa fünf Meter Tiefe inmitten eines Korallenriffs. ES ernährte sich von unvorsichtigen Fischen, die im Riff nach Nahrung suchten und dadurch selbst zu Nahrung wurden. Ein ideales Leben für ein Biest wie ES. Es lebte da unten schon an die vierzig Jahre. Ganz am Anfang seines Lebens konnte ES noch schwimmen, aber das hatte sich als überflüssiger Energieverbrauch erwiesen und wurde daher irgendwann eingestellt. Ihm reichten die zwanzig bis dreißig Kilo Frischfisch pro Tag, die schon fast automatisch von seinem Schlund aufgesaugt wurden. Seit es in der Bucht immer mehr Angler gab, ging die Ausbeute gleichermaßen zurück. Heute hatte ES Hunger.
Robinson lenkte das Boot an der Küste entlang. Wunderbarer Blick auf die teuren Hotelanlagen. Mit Zimmern, die er nie von innen gesehen hatte. Die Fahrt bis zum Korallenriff dauerte in der Regel zwanzig Minuten. Er konnte die Stelle nicht verfehlen, weil eine weithin sichtbare Boje die Stelle markierte. Wie immer waren die Kinder an Bord zu laut. Etwa drei- bis 5-jährig, waren sie noch nicht schulpflichtig und konnten mit ihren reichen Eltern Ferien im Paradies machen. Ein Paradies, das er immer nur durch den Hintereingang betreten durfte.
Plötzlich verlor das Boot an Fahrt. Der Motor stockte, fing sich wieder, um dann plötzlich ganz stehen zu bleiben. Einfach so. Die Kinder sahen die Erwachsenen an, die Erwachsenen starrten Robinson an. Der zuckte die Schultern. Routinemäßig überprüfte er die Treibstoffleitung und den Tank. Dann war klar, warum es nicht weiterging: Er hatte vergessen, den leeren Tank gegen einen vollen auszuwechseln. Menschliche Nachlässigkeit. Kann passieren. Da half auch der Ersatzmotor nichts. „Wird mich wohl meinen Job kosten, wenn es rauskommt“, dachte Robinson. Bis zur Küste waren es nicht mehr als fünfhundert Meter. Bis zur Koralleninsel mit der Boje noch ein Stück weiter.
Was tun? Die trägen Touristen hatten offenbar den Ernst der Situation noch nicht ganz verstanden. Das deutsche Paar kam als Erstes darauf: „Mauritius, wir haben ein Problem“, scherzte der junge, schlanke Mann zu seiner bildhübschen Begleitung. „Wie meinst Du das?“ fragte sie. „Das Benzin ist alle. Und wir sind ziemlich weit draußen ohne jeden Kontakt zu irgendwelchen anderen Schiffen“. - „Und jetzt?“ - „Jetzt rufen wir um Hilfe. Falls unser Handy hier überhaupt funktioniert“. Ein Blick auf´s iPhone schloss diese Möglichkeit aus. Kein Empfang.
Robinson hatte den anderen Schiffsinsassen die missliche Lage inzwischen auf Französisch erklärt. Man nahm es mit Humor. „Die werden uns schon vermissen und dann eben später abholen!“, sagte eine junge Kreolin. „Solange können wir doch ein bisschen Baden oder Schnorcheln!?“
Robinson sparte es sich, die Reisenden darauf hinzuweisen, dass hier überall Seeigel oder Korallen an der Tagesordnung waren, an denen man sich ohne Taucherflossen leicht die Füße zerschneiden konnte. Waren doch bloß Touristen. Seinen Job war er ohnehin los. Malcolm, ebenfalls ein Kreole, wagte sich als Erster ins Wasser. „Macht nochmal ein Foto vor mir! Falls ich nicht wiederkomme!“ scherzte er und ließ sich rückwärts von der Seitenwand ins Wasser fallen. Das Boot trieb schnell von ihm weg. Geistesgegenwärtig warf ihm Robinson den Rettungsring zu, aber Malcolm hatte gar nicht hingesehen. Er hatte seine Taucherbrille aufgesetzt und starrte mit großem Interesse in die Tiefe.
ES war ungehalten. Wer wagte es, seinen hypnoseähnlichen Tiefschlaf zu stören? Was waren das für widerliche Geräusche? Sonst wachte er nur auf, wenn ein Zyklon die Insel besuchte und infolge der starken Strömung sein Korallenhaus manchmal ein wenig vom Meeresboden losgerissen wurde. Zwei fast symmetrische Stellen seines matschigen Körpers öffneten sich, aus denen die vermatschten Augen quollen. Im Nu hatten sie sich auf das Licht eingestellt, das hier – nur etwa einen Meter unter der Meeresoberfläche – fast genauso hell war wie über dem Wasser. Das Zucken der Beine Malcolms hieß für seinen einfachen Verstand nur eins: Mahlzeit.
Inzwischen war das Boot weiter abgetrieben. Malcolm hörte die Rufe nicht. Robinson schrie sich die Seele aus dem Leib. Selbst die Kinder schrien um die Wette, um den Schnorchler zur Rückkehr zu bewegen. `Das auch noch´, dachte Robinson. Er hatte auch keinen Anker an Bord. Wozu auch? Für die paar Meter raus ins Meer?
. . .
Epilog:
„Na Ehrhardt, wie weit sind Sie?“. Der Chef war reingekommen. „Na ja, ich bin noch mittendrin. Aber ich befürchte, mit einem Dreispalter kommen wir nicht hin.“ - „Dann zeigen Sie mal, was Sie schon haben.“ Er starrte auf Ehrhardts Laptop, scrollte an den Anfang und begann zu lesen.
Nach zehn Minuten brach er ab. Der Chef war zunächst sprachlos, aber dann polterte es aus ihm heraus: „Sagen Sie mal, hammse Ihnen ins Hirn geschissen? Sie sollten einen kleinen Aufsatz über eine harmlose Glasboottour schreiben – und dann kommen Sie mir mit dieser Ausgeburt kranker Phantasie an? Ham Se zuviel Frank Schätzing gelesen? In 10 Minuten habe ich einen ordentlichen Artikel, sonst sind sie gefeuert!!!“
P.S.: Die Fahrt war so harmlos wie nichts Anderes auf dieser Insel, aber irgendwas muss ich ja schreiben.
Echte Fische - direkt aus dem Glasbottomboot fotografiert

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